Hier fing alles an . . .
Der Turnverein wurde am 22. Oktober 1892 in der Gastwirtschaft „Zur Linde“ gegründet. Das Gründungslokal war die beliebte Gartenwirtschaft von Linnebausche mit Kegelbahn und Kapellenmusik an Sommerwochenenden. Die Gaststätte „Zur Linde“ befand sich am Lindenplatz. Teilnehmer an der Gründungsversammlung waren u.a. Karl Bechtold, Wilhelm Heß, Adolf Kromm, Karl Müller, Wilhelm Münk, Heinrich Philippi, Konrad Peter Schmidt, Wilhelm Schmidt, Philipp Weißgerber und Christian Wittigschlager. Der Verein war als eher „bürgerlich“ einzustufen. 1892 ging man zunächst daran, die teuren Turngeräte anzuschaffen. Vermutlich gelang dies auch mit Unterstützung der wohlhabenderen Gründungsmitglieder. Turnstunden wurden mittwochs und samstags in der Kegelbahn des Gasthauses „Zur alten Post“ abgehalten. In dieses Gasthaus wurde auch bald die Vereinswirtschaft verlegt. Auf den Postkarten sind das „Gasthaus zur Linde“ wie auch das „Gasthaus zur alten Post“ abgebildet.
Die ersten Höhepunkte: Im Juli 1896 fand auf dem Festplatz das Fahnenweihe-Fest steht. „Das Festkomite“ hatte eingeladen vom Bierkommers am Samstag Abend bis zum Feuerwerk bei Eintritt der Dunkelheit am Montag. Für Sonntag wurde ein Eintrittspreis von 20 Pfennig festgelegt. Die Enthüllung der Fahne war für die Zeit nach dem Festzug vorgesehen. Die Festwirtschaft wurde Friedrich Bausch übertragen. Erster großer Höhepunkt im jungen Vereinsleben war 1905 die Gauturnfahrt, die in diesem Jahr nach Nieder-Wöllstadt führte. An diesem Tag entstand auch das Foto auf der Titelseite der Chronik zum 100-jährigen Jubiläum. Das Stiftungsfest fand seit 1893 jährlich statt, das lässt sich aus der Einladung der Mitglieder im Jahr 1913 entnehmen. Das Abturnen nachmittags ab 2 ½ war wohl noch öffentlich, aber die Abendfeier war nur den Mitgliedern vorbehalten, die eine Einlasskarte vorzeigen mussten. Auswärtige Besucher hatten nur in Begleitung von Mitgliedern Zutritt.
30-jähriges Vereinsjubiläum und Gauturnfahrt 1922: Das 30-jährige Vereinsjubiläum wurde groß gefeiert. Gewissenhaft wurden die Festtage vom 2. - 4. September vorbereitet. Anlässlich dieses Jubiläums führte die Gauturnfahrt wieder einmal nach Nieder-Wöllstadt. 38 Festdamen hatten sich gemeldet und wählten Dina Bernhard zur Ehrendame. Die Damen hatten zur Verschönerung des Festes einen Reigen eingeübt und überreichten einen Silberkranz für die Vereinsfahne. Dieser Silberkranz ist noch heute im Besitz des Vereins. Der Karussellbesitzer Köhler aus Ober-Florstadt war für die Unterhaltung auf dem Festplatz verantwortlich. Folgende Ortsvereine wurden eingeladen: die Gesangvereine Concordia und Frohsinn, der Kriegerverein, der Schützenverein, der Radfahrerclub „Edelweiß“ und ein Kegelclub. Für die auswärtigen Turner, die zum Fest nach Nieder-Wöllstadt kamen, wurden Freiquartiere gesucht (und vermutlich auch gefunden).
Frauenturnen: 1928 wurde die Frauenriege gegründet, die erste Turnstunde mit einem Turnlehrer (und einer Anstandsdame) fand am 8.1.1929 statt. Die Frauenriege war in den dreißiger Jahren zu beachtlicher Stärke angewachsen. Trainiert wurde unter freiem Himmel, zunächst am Rodheimer Wald, später auf der Pfingstweide. Übungsräume standen bei Schaums und Unzickers zur Verfügung.
Der Arbeiterturnverein:
Klassenbewusste Arbeiter gingen ihrer turnerischen Betätigung in den Arbeiterbildungsvereinen nach, um so unter sich zu sein. Sie organisierten sich als „Freier Arbeiter Turnerbund“, ihr Gruß lautete anstelle der „F“ für „Frisch-Fromm-Fröhlich-Frei“ nun „Frisch-Frei-Stark-Treu“. 1907 wurde der Arbeiterturnverein in Nieder-Wöllstadt gegründet, der nach Angliederung einer Fußballabteilung den Namen „Arbeiter Turn- und Sportverein“ bzw. „Freie Turn- und Sportgemeinde“ führte. Der Arbeiterturnverein hatte schon 1919 einen großen Spielmannszug mit Trommler und Pfeifer. Im Sommer 1925 nahm der mitgliedstarke „Arbeiter Turn- und Sportverein“ an der ersten internationalen Arbeiter-Olympiade in Frankfurt am Main teil. Der blühende Verein wurde 1933 zwangsweise aufgelöst, Turngeräte und Musikinstrumente zunächst beschlagnahmt und später konfisziert.
Fußballer beim Turnverein:
Fußball wurde bei den Turnvereinen, also auch bei dem Arbeiterturnverein, bereits um 1920 gespielt. Die Entwicklung des Fußballs bei den Turnvereinen danach ist nicht eindeutig belegt. Fußballabteilungen wurden aufgelöst, dann wieder gegründet und spätestens 1933 dem Turnverein zwangsweise angegliedert.
Sport in der Zeit von 1933 bis 1945:
Die Nationalozialistische Machtergreifung und die von breiten Teilen der Bevölkerung meist begeisternd aufgenommene Ideologie verfestigte sich auch in den meisten Bereichen des Dorfes. Dies hatte auch zahlreiche Konsequenzen für den Deutschen Turnverein. Die Konkurrenz, der Arbeiterverein, war verboten worden. Gleichartige oder ähnliche Vereine sollten nach den Vorstellungen der NS-Machthaber gleichgeschaltet, d.h. zusammengeschlossen, werden. Auch in Nieder-Wöllstadt wurde gleichgeschaltet. Seit 1933 wurde „Turnen“ und jede Art körperlicher Ertüchtigung insgesamt großgeschrieben. Im 2. Weltkrieg kam der Vereinsbetrieb schnell zum Erliegen. Nach dem Ende des Krieges wurden sämtliche Vereine von der Amerikanischen Militärregierung zunächst einmal verboten. Erst 1954 kam es zur Wiedergründung des Vereins. Der Krieg hatte auch hier sichtbare und schmerzliche Wunden geschlagen. Zahlreiche Turner waren gefallen oder wurden noch vermisst.
(Aus der Festrede von Dr. Dieter Wolf am 25. April 1992)